
Marlies Schulte : Ausschnitt aus einem “Chemiebild” auf einer Kupferplatte
Die Prager Galerie Nová sín überraschte mit der Ausstellung “Transformation” der zeitgenössischen deutschen Künstlerin Marlies Schulte. Die Ausstellung konzentriert sich hauptsächlich auf “chemische Gemälde”, die ohne Pinsel und Farbe entstehen. Die originelle Ästhetik von Marlies Schultes Materialabstraktion können Sie bis Sonntag, den 5. Oktober 2025, in der Galerie Nová sín kennenlernen.
Marlies Schulte (1950), lebend und arbeitend in Hamburg, ist eine einzigartige Künstlerpersönlichkeit, deren Werk bewusst in der besten Tradition der europäischen informellen Abstraktion (Informel) steht. In ihrer aktuellen Ausstellung in Prag präsentiert sie Werke mit Fragmenten getrockneter Pflanzen und vor allem Gemälde auf Metallträger, die ohne Verwendung von Pinseln oder Farben entstanden sind. Beide genannten, hinsichtlich Material und Technik völlig unterschiedlichen Werkebenen der Autorin lassen sich zu einer spezifischen Linie des Informel zusammenfassen, die als Materialabstraktion bezeichnet wird. Dieser Begriff umfasst verschiedene kreative Prozesse, bei denen das Material nicht länger nur künstlerisches Medium ist, sondern zum direkten Träger von Inhalt und Ausdruck des Kunstwerks wird.
 |
|
 |
Der Begriff Informel steht für eine außerordentlich kraftvolle und einflussreiche europäische Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts, die gemeinsam mit dem amerikanischen abstrakten Expressionismus die Weltkunst etwa in den 20er Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte. Zu ihren Protagonisten und Hauptvertretern zählen die Franzosen Jean Fautrier und Jean Dubuffet, die Deutschen Hans Hartung und Wols, der Italiener Alberto Burri und der Spanier Antoni Tàpies. Es überrascht nicht, dass sich eine so breite internationale Bewegung, die eine Reihe starker kreativer Persönlichkeiten umfasste, in zahlreiche miteinander verflochtene Unterströmungen verzweigte. Der Begriff Informel setzte sich schließlich durch und triumphierte über die historischen Begriffe lyrische Abstraktion oder Tachismus, die eher vage verwendet wurden und sich lediglich auf Teilbereiche der informellen Kunst oder auf einige ihrer Vertreter bezogen.
 |
|
 |
Der Begriff der materiellen Abstraktion lässt sich jedoch gut definieren und sinnvoll verwenden, um einen bestimmten Bereich innerhalb des Informel zu bezeichnen. Vereinfacht lässt sich sagen, dass ein Künstler, der im Geiste der materiellen Abstraktion schafft, nicht-malerische Materialien wählt, die er mit unkonventionellen Methoden bearbeitet, oft unter völligem Verzicht auf Pinsel und Pigmentfarben. Von den sechs genannten prominenten Vertretern des historischen Informel kann das Trio Dubuffet, Tàpies und Burri als typische Vertreter der materiellen Abstraktion gelten. Die ersten beiden arbeiteten üblicherweise mit dichten Materialien wie Sand, Ton und Gips, deren rohe Struktur und erdige Farbigkeit an erodierte Erdschichten, Felsen oder verputzte Wände erinnern. Alberto Burri zeichnet sich durch hitzeverformte Kunststoffe, Sackleinenfasern und eine kontrastierende rot-schwarze Farbgebung aus. Die Werke von Dubuffet und Tàpies tendieren zur Meditation und sind mehr oder weniger mit einem existenziellen Gefühl belastet, während in Burris Werken, die deutliche Spuren der Zerstörung aufweisen, eine traumatische emotionale Ladung überwiegt.
 |
|
 |
Marlies Schulte führt die historische Linie der Materialabstraktion auf völlig originelle Weise mit ihrer eigenen Technik fort. Sie setzt Kupfer- und Messingplatten chemischen Mitteln aus, die die Oxidation und andere chemische Prozesse beschleunigen und so die Oberflächenstruktur der Platte und gleichzeitig die Farbe des Metalls verändern. Alle haptischen und optischen Veränderungen auf der Oberfläche der Metallplatte sind ausschließlich das Ergebnis chemischer Reaktionen, die durch die Wahl des Mittels, die Festlegung der Ausgangsbedingungen und die Dauer des Prozesses bestimmt werden. Mechanische Eingriffe nutzt die Künstlerin lediglich, um die unregelmäßigen Konturen der Metallplatte zu definieren, die sie dann an einen homogenen schwarzen Hintergrund anpasst. Die Ergebnisse ihrer Methode sind faszinierend.
Chemische Prozesse hinterlassen Spuren ihres spontanen Ablaufs im Metallmaterial, was dem fertigen Werk eine elementare, fein reliefierte Struktur und Rohheit im Detail verleiht. Auch die Farbe des Werks wird ausschließlich durch die stattgefundenen chemischen Reaktionen bestimmt. Der glänzende und warme orangebraune Farbton von reinem Kupfer kontrastiert eindrucksvoll mit dem matten, kühlen und türkisfarbenen oxidierten Kupfer und der mattschwarzen Oberfläche des Sockels. Schulte überlässt die Interpretation der unbetitelten Werke ganz dem Betrachter. Je nach seiner Vorstellungskraft kann er in ihnen eine Vogelperspektive auf eine Küsten- oder Flachlandschaft, Teleskopbilder ferner Planeten oder umgekehrt mikroskopische Schnitte von Zellgewebe sehen. Diese Werke werden den Grafiker zweifellos an den Charme alter grafischer Matrizen erinnern, die mit Spuren längst getrockneter Druckfarben bedeckt sind.
 |
|
 |
Das Gegenstück zu dichten und massiven Metallplatten bilden Arbeiten aus trockenen Pflanzenfragmenten und Pflanzenfasern, die entweder auf weißer Leinwand oder auf handgeschöpftem Papier aufgebracht sind. Diese Werke, die an fossile Spuren in Sedimentgesteinsschichten erinnern, strahlen ein nostalgisches Gefühl von Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und dem Aussterben organischen Lebens aus. Im Gegensatz dazu erinnert die chemisch zersetzte Oberfläche der Metallplatten an die durch Erosion geformte Erdoberfläche und lässt so auch die Konfrontation dramatisch unterschiedlicher Zeitdimensionen in der organischen und anorganischen Welt erahnen. Während das Leben einer Pflanze nur Monate, höchstens Jahre dauert, vollziehen sich geologische Prozesse im Ausmaß von Millionen und Hunderten von Millionen von Jahren. Dies ist jedoch nur eine der möglichen Interpretationen, die Marlies Schultes Materialabstraktion dem Betrachter bietet. Gemeinsames Merkmal beider Positionen ihrer Arbeit ist die Abkehr vom existenziellen Pathos und die Hinwendung zur stillen Kontemplation von Materie, Zeit und Raum.
Text und Foto : Jirí Bernard Krticka
Ceské galerie - Oktober 2025
Siehe Originaltext